Kann es wirklich sein, dass wir im Kommunikationszeitalter einen wichtigen Künstler übersehen
haben? Hätte man dies behauptete, bevor es zu der überraschenden Wiederentdeckung von
Guillaume Ferrée durch den seelenverwandten Künstler Dirk Dietrich Hennig kam, ich hätte es
vehement abgestritten. Heutzutage bleibt doch nicht einmal mehr das Geheime geheim,
geschweige denn ein so außergewöhnlicher Künstler wie der 1926 in Lorquin geborenen
Künstler Jean Guillaume Ferrée, der sich – darin verwandt den anderen Elsässer Jean / Hans
Arp - gelegentlich auch mit seinem eingedeutschten zweiten Vornahmen Wilhelm nannte.
Wiederentdeckungen, das war etwas für die Frühzeit der Kunstgeschichte, als es darum ging,
die bekannten und gelegentlich auch die verkannten Werke in den Museen, Kirchen, den auch
damals schon zahlreichen privaten Sammlungen und – soweit noch vorhanden – Palästen den
Namen der großen Künstler zu, öfter aber auch abzuschreiben, die - wie man im Fachjargon
sagt - Hände zu scheiden, die Meister von den Werkstätten also zu unterscheiden oder gar ganz
neuen Namen, die bislang nur in den historischen Quellen genannt wurden, bislang namenlosen
Kunstwerken zuzuschreiben. Dabei wurde so manches wohlwollende Vorurteil revidiert, aber
auch immer einmal wieder ein Künstler neu oder doch zumindest wiederentdeckt. Erinnern wir
uns doch nur an El Greco, dessen Name als Tizian Schüler zwar bekannt war, dessen Kunst
man aber erst nach ihrer Wiederentdeckung durch die Künstler des Blauen Reiters in München
zu schätzen begann, wirkten seine Bilder doch wie eine Vorwegnahme der Expressivität der
damals jungen Avantgarde. Im 19. Jahrhundert war es üblich, dass z.B. alles, was irgendwie
nach Rembrandt aussah, dann auch Rembrandt genannt wurde? Inzwischen ist dank der
intensiven Erforschung von Leben und Lebensumständen Rembrandts Werk so geschrumpft,
dass sogar der einst so berühmte – und trotz aller Abschreibungen, wundervoll gemalte – Mann
mit dem Goldhelm in Berlin dem Meister weggenommen wurde.
Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts allerdings und den immer wohlfeiler werdenden
Möglichkeiten des Abbildens und des Veröffentlichens und der Wert- und Bedeutung steigernden
Sitte, der die Originalität eines Werkes versichernden eigenhändigen Signatur, schrumpfen die
Möglichkeiten des Verkanntseins oder des Unbekanntbleibens zumindest in unserer
abendländisch amerikanischen Kommunikations-Gesellschaft. Das gilt in besonderem Maße
natürlich für die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg in einer Zeit des Hungers nach (guten und
wahren) Bildern. Selbst die Nachkriegsavantgarden, zu denen wir von nun an Jean Guillaume
Ferrée zweifellos zählen müssen, hatten fast alle Chancen, ihr Werk einer auf Neues erpichten
Kunstöffentlichkeit vorzustellen und sie hat sie auch wahrgenommen, sich immer ins rechte Licht
zu setzen mit ihren Forderungen z.B. nach der Zerstörung der Museen und Opernhäusern, ein
avantgardistischer Dauerbrenner seit den Pamphleten des italienischen ‚Futuristen-Papstes’
Marinetti und Jahrzehnte später des französischen Komponisten Pierre Boulez, der dann - reifer
geworden - sogar in Bayreuth dirigiert hat. Auch die Ablehnung der klassischen Kunstmateriali-
en, wie beispielweise bei den Arte Povera Künstlern in den 60er Jahren, die Eroberung neuer
Kunstfelder wie in der Performance-Bewegung, die Überschreitung der Kategorien von der
Visuellen Poesie bis zur weltweiten Fluxus-Bewegung, in deren Dunstkreis wir Ferrée wohl
einordnen dürfen, um nur einige wenige Veränderungen des bildnerischen Bewusstseins
anzudeuten. Die Avantgarden saßen bekanntlich immer zwischen allen Stühlen und dort ist
bekanntlich auch der einzig richtige Platz für einen Künstler der Moderne. Zugegeben: Die
Kunstgeschichtsforschung hat - wie jede historische Forschung - erst verspätet von den
Avantgarden Kenntnis genommen, meist erst nach Ablauf mindestens einer Generation, wenn
sich künstlerisch die Spreu vom Weizen getrennt hat. Erst dann, spät aber meist nicht zu spät,
geraten die Avantgarden von einst in den Blick der archivierenden Forschung und in die Räume
der bewahrenden Museen, die sich allerdings auch entsprechend verändern mussten. Dass aber
ein Künstler auch schon während seiner eigentlichen Schaffenszeit keine oder doch kaum
spürbare Reaktionen erfahren hatte, dass er selbst den Beobachtern und Begleitern und
Kritikern der Avantgarden und deren Publikationsorganen entging und so gut wie unsichtbar
blieb, ist ein außergewöhnlicher Sonderfall, der uns zu denken geben sollte und unserer
Überzeugung von der Allgegenwart der veröffentlichten Kunst ins Wanken bringt. Was war
geschehen, dass wir, die Beobachter der Szene, nichts von Jean Guillaume Ferrée bemerkt
haben, dass uns ein Künstler dieser Qualität nicht zu Bewusstsein kam? Sicherlich hat hier das
Schicksal ungewöhnlich hart zugeschlagen. Die Jugend verbringt der Sohn eines französischen
Leutnants und einer deutschen Mutter in dem weiter nicht auffälligen Ort Lorquin an der Grenze
zum Elsass. Er verliert seinen Vater früh, denn dieser fällt als Offi zier der französischen Armee
gleich am Anfang des Zweiten Weltkrieges. Nach dem Kriege verschlägt es den jungen Mann für
drei Jahre zu Verwandten seiner Mutter nach Heiligenrode bei Bremen. Nach dem wenigen, was
wir von seinem Leben wissen, eine wichtige Zeit, denn in seinem Testament vermerkt er
ausdrücklich die Unterbringung eines wichtigen Teils seiner Kunstwerke in Heiligenrode, wohl im
Vertrauen darauf, dass sie dort bewahrt und vielleicht eines Tages entdeckt werden könnten?
Wie wir dem Bericht seines behandelnden Arztes Dr. Philippe Gerrault von 1997 entnehmen
können, war Ferrée sich seiner „temporären retrograden Amnesie“, seiner Erinnerungspausen
bzw. manchmal auch unwiederbringlichen Erinnerungsausfälle durchaus bewusst und wollte sein
Werk wohl auf diese Weise vor sich selbst schützen? Wir können das allerdings nur vermuten,
denn als ein Ort der Avantgarden war und ist Heiligenrode kaum zu bezeichnen und auch das
nahe Bremen war in der Nachkriegszeit nicht gerade ein Vor-Ort der internationalen zeitgenös-
sischen bildenden Kunst, im Gegenteil, es hatte sich lange aus der Diskussion um die Evoka-
tionen der Nachkriegsmoderne heraus gehalten. Erst mit der Gründung des Neuen Museum
Weserburg 1988, an der der Autor auch teilhatte, beginnt die verspätete Diskussion um diese
wichtige Epoche internationaler Kunst selbst in Bremen. Das alles spricht Anfang der 60er Jahre
also nicht gerade für diesen Bewahrungsort avantgardistischer Kunst. Es muss wohl das
Vertrauen in die Zuverlässigkeit und das Traditionsbewusstsein der norddeutschen Verwandten
gewesen sein, das Ferrée wohl seit seinen Heligenroder Jahren bekannt war und das ihn
deshalb bewogen haben mag, seine Kunstwerke dort sicher bewahrt zu sehen, sollte ihm einmal
etwas passieren. Hatte nicht Bismarck gesagt, wenn die Welt untergehe, würde er nach
Mecklenburg ziehen, da passiere es 100 Jahre später / kann da der Nordwesten Deutschlands
nicht mindestens ein viertel Jahrhundert Verspätung für sich beanspruchen? Wie recht Ferrée
hatte, zeigt der z.T. hervorragende Zustand der auf uns überkommenen Arbeiten und dies trotz
ihrer offenkundigen materiellen Empfi ndlichkeit, die solchen Papier- und Materialcollagen und
Assemblagen anhaftet, wie wir aus oft leidvoller restauratorischer Erfahrung wissen. Gäbe es die
Einrichtung des verdienstvollen Künstler-Stipendiums in Heiligenrode nicht, wer weiß, wie lange
wir noch auf die Wiederentdeckung von Guillaume Ferrées nachgelassen Werken durch den
Heiligenroder Stipendiaten Dirk Dietrich Hennig hätten warten müssen? Ist es wirklich verfrüht,
von einer Sternstunde der zeitgenössischen Kunstgeschichtsschreibung zu sprechen?
Muss die Kunstgeschichte der 60er und 70er Jahre womöglich umgeschrieben werden? Wir
sollten mit solchen Behauptungen vorsichtig umgehen, denn noch stehen uns die Werke aus
Lorquin nicht zur Beurteilung zur Verfügung, denn Ferrée hatte verfügt, dass sie erst im Jahre
2006 öffentlich zugänglich gemacht werden dürfen. Deshalb müssen wir uns vorläufi g mit den
Kunstwerken aus der - allerdings ohnehin schon aufregenden - Heiligenroder Werkphase
beschäftigen. Auffallend im Werk des Guillaume Ferrée sind mehrere überraschende
Beobachtungen: Da ist das offenkundige Interesse am Medialen, wie man heute sagen würde,
wobei man - verkürzend - darunter das Interesse der zeitgenössischen Kunst an den
Kommunikationsmedien versteht. Das Medium, das Ferrée besonders fasziniert zu haben
schien, war wohl der Film, wenn auch meist in seiner quasi zum Foto erstarrten und in jenen
Jahren üblichen Form der zu jedem Kinobesuch wohlfeil angebotenen bebilderten Programme.
Es handelte sich dabei um meist vierseitige bebilderte Programmheftchen, die die Story und
Besetzung verzeichneten und die in bläulichem oder bräunlichem Kupfertiefdruck die Stars,
Szenen des Films abbildeten und diese gelegentlich in gewagter Collagetechnik kombinierten,
eine Technik, der sich Ferrée auch bediente. Übrigens zählen heute diese Programme zu
begehrten Sammelstücken und manchem Sammler wird es schwer ankommen, zu sehen, mit
welcher Freiheit und Nonchalance Ferrée, die damals für Pfennig- bzw. Centimebeträge
verkauften Filmprogramme zerschnitt und unter Verwendung auch anderer Druckvorlagen in
seinen Collagen verarbeitete. Es wäre vielleicht eine Untersuchung wert, anhand der Fotos
herauszufi nden, welche Filme Ferrée damals gesehen hat und ob sie über die Verwertung der
Starfotos hinaus sein Werk beeinfl usst haben? Sehen wir einmal ab von den frühen
Fotomontagen der russischen Avantgardisten wie z.B. Alexander Rodtschenko in den 20er
Jahren oder von Paul Citroen oder unserer Lady of DADA Hannah Höch, die allerdings alle im
Wesentlichen Zeitungs- und Zeitschriftenfotos, wenn nicht gar Originalaufnahmen verwerteten,
dann haben wir es bei Ferrée, meines Wissens zum ersten Mal, mit Filmfotos - heute würde man
sagen Filmstills - als medialem Material in der bildenden Kunst zu tun.
Sein Interesse an gefundenen massenkommunikativen Mitteln zeigt sich aber auch deutlich in
anderen Werken, in denen er sich kritisch mit den damals gängigen Kommunikationsmitteln
auseinander setzt, z.B. an der Arbeit „Nous faisons de la sécurité un événement“, in der er eine
Super-Acht-Kamera mit einem aus Zeitungsstreifen gefertigten „Film“ geladen hat und damit
metaphernreich das ursprünglich fi lmische Negativ durch das bedruckte Positiv ersetzt. Oder
betrachten wir die Arbeit „Écoute - moi“ bei der ein Diktiergerät (!) ein Tonbandknäuel in einen
Kokseimer kotzt (!), oder schauen wir auf die beiden rhythmisch strukturierten Arbeiten mit den
gestapelten und in Kisten gepressten und damit der Kommunikation entzogenen Zeitungen, die
uns an die gleichzeitigen Evokationen der Visuelle Poesie erinnern, denn Teile der Texte der
Zeitungen sind, zumindest in der einen Arbeit, noch les- oder entzifferbar und ergäben frei
zusammenstellt und gelesen typischen, an ‚cadavre exquis‘ Zeichnungen aus den 30er Jahren
erinnernden neuen ‚Un-Sinn‘.
Wir müssen davon ausgehen, dass dieses Werk unter Ausschluss der Kunstöffentlichkeit
entstanden ist, dass sich der Künstler quasi kommunikativ verweigerte. Dennoch müssen wir zu
unserer Überraschung konstatieren, dass Ferrée eine höchst einseitige, im wahrsten Sinne
egozentrische Kommunikation mit der künstlerischen Szene pfl egte, auf welchen verschlungen-
en Wegen auch immer sie zustande kam. Zu offensichtlich sind, bei aller Eigenständigkeit, die
bildnerischen Einfl üsse und Verwandtschaften zu Werken Gleichgesinnter der Avantgarden der
60er und 70er Jahre. Der Kunsthistoriker muss daraus 14 schließen, dass Ferrée - vielleicht
getarnt als „nur“ interessierter Besucher - an vielen Ausstellungen, Aktionen, Happenings und
Performances in den damaligen Avantgardegalerien teilnahm und auf diese Weise mit den
Evokationen seiner Zeitgenossen vertraut wurde, ja dass er ein sicheres Gespür dafür gehabt
haben muss, was gerade aktuell oder neu war, auch wenn das Neue damals nur unter den
„üblichen Verdächtigen“ kursierte. Es wäre einmal interessant und verdienstvoll, danach zu
forschen, ob sich das Gesicht Ferrées auf einem der vielen Fotos, die damals bei den Perfor-
mances (z.B. eines Yves Kleins, Wolf Vostells oder Allan Kaprows) oder Vernissagen der
Avantgardegalerien gemacht wurden, wiederfi nden ließe?
Eines aber können wir mit relativer, wenn auch nicht endgültiger Sicherheit annehmen, dass
Ferrée nämlich das wohl wichtigste Environment ROXYS des amerikanischen Künstlers Edward
Kienholz in Straßburg gesehen haben muss (1), denn der Einfl uss dieses frühen Tableaux, wie
es Pontus Hulten noch bezeichnet hatte, ist bis hinein in das Raumkunstwerk seines „Capsule
de temps“ von 1973 zu spüren.
1968 hatte das Environment ROXYS auf der dokumenta IV in Kassel Furore gemacht. Es war
übrigens direkt neben der eindruckvollen „Raumplastik“ von Joseph Beuys (2) positioniert.
Kienholz erinnerte sich daran, wie er mir einmal schmunzelnd erzählte, dass der kleine Sohn von
Beuys während des gemeinsamen Aufbaus der Environments mit einer Wasserpistole herum-
schoss, wobei mir der Verdacht kam, dass der Waffenliebhaber Kienholz dem Jungen die Pistole
wohl geschenkt haben könnte, um den deutschen Vater zu ärgern. Zu Beginn der dokumenta
durften die Besucher noch inmitten dieses surrealistisch anmutenden amerikanischen Soldaten-
bordells aus dem 40er Jahren sitzen und so zu Mitakteuen des Werkes selber werden, wie sich
der Autor noch gut erinnert, bis es dann zu sehr unter der oft handgreifl ichen Neugierde der
Besucher litt. Der junge Berliner Galerist Reinhard Onnasch sah ROXYS zwar erst 1970 auf der
von Pontus Hulten zusammengestellten Ausstellung von Ed Kienholz „11 + 11 Tableaux“ in
Düsseldorf (3). Im gleichen Jahr machte er seine erste Ausstellung des Künstlers in seiner
damaligen Kölner Galerie. Hier entstand 1974 übrigens auch die einzige Arbeit, die dem Künstler
je aufgrund seiner sog. Conceptual Plate von 1965 in Auftrag gegeben wurde; „The Commercial
# 2“, das ebenso, wie „ROXYS“ für viele Jahre im Neuen Museum Weserburg Bremen zu sehen
war. Aber das wäre eine andere Geschichte. Anfang der 70er erwarb Reinhard Onnasch ROXYS
für seine eigene Sammlung von den Darmstädter Sammler Kurt Ströher, musste das Environ-
ment aber aus fi nanziellen Gründen schon bald wieder verkaufen. Hier nun lässt sich eine
Verbindung zu Ferrée herstellen, denn ROXYS ging für einige Jahre als Leihgabe aus Pariser
Privatbesitz nach Straßburg in das dortige Museum. Hier muss es unser Künstler gesehen
haben, wo sonst, wenn nicht hier, denn ein dokumenta Besuch von Ferrée lässt sich leider nicht
nachweisen. Lorquin liegt immerhin nicht weit von Straßburg entfernt. Bei den Fotoaufnahmen
zu der Arbeit „Les lancumes lamplir“ kam Jean Guillaume Ferrée 1974 ums Leben. 1974 stirbt
Ferrée unter immer noch mysteriösen Umständen (auch hier spielt eine Pistole eine Rolle,
allerdings eine echte). Die Umstände bleiben ebenso ungeklärt wie z.B. die Todesumstände Bas
Jan Aders, eines niederländischen Künstlerkollegen, dessen Werk endlich auch wieder in die
Öffentlichkeit tritt (4). Bas Jan Ader startete 1975 mit einem offensichtlich viel zu kleinen
Ruderboot von Cape Code an der Ostküste der Vereinigten Staaten nach Europa. Seit dem ist er
verschollen. Ob wir es auch hier mit einem absichtlich herbeige-führten ‚zufälligen Kunst-Unfall’
zu tun haben, wie vermutlich auch beim Tode Ferrées, wird wohl immer ein Geheimnis der
Künstler bleiben.
Aber zurück zu ROXYS. 1978 gelingt es übrigens Reinhard Onnasch, ROXYS wieder zurück zu
erwerben, dies sei der Vollständigkeit halber noch angefügt und ein Glücksfall fügt es, dass es
ab 1991 in der Sammlung Reinhard Onnasch für fast fünfzehn Jahre zum temporären Bestand
des Neuen Museums Weserburg Bremens gehört, nachdem die Ausstellung von ‚ROXYS and
other Works‘ aus der Sammlung Reinhard Onnasch in Bremen 1982 ursächlich mit einer der
Gründe gewesen ist, ein Sammlermuseum in Bremen zu gründen (5).
Wir haben also eine Zeitspanne von fast 3 Jahren, in der das sensationelle Werk der IV.
dokumenta in Straßburger Museum zu sehen war, in einem Museum, das ansonsten - ohne den
Museumskollegen zu nahe treten zu wollen - damals nicht gerade zu den Avantgardemuseen
zählte. Es ist also höchst wahrscheinlich, dass ein so gut informierter Künstler, wie Ferrée ganz
sicherlich das seiner Heimatstadt ortsnächste Museum in Straßburg besucht hat und dort diese
frühe und eineinflussreiche Arbeit von Ed Kienholz sah. Der Einfluss, den die assemblierten
Figurinen der Prostituierten in ROXYS auf die z.T. figurativen Assemblagen Ferrées ausgeübt
haben, ist zu offensichtlich.
Ein Environment hat Ferrée (nach bisherigen Wissen-D.D.Hennig) allerdings nur einmal
geschaffen, sein „Capsule de tempsr“. Hier wird aber auch ein anderer wichtiger Einfluss
verarbeitet, die voyeuristische letzte Arbeit von Marcel Duchamp „Etant donnés, 1946 - 1966 (6).
Ferrée konstruiert, wie Duchamp, einen nicht betretbaren Raum, der wie bei Duchamp -
metaphorisch gesprochen nur durchs Schlüsselloch - „Through the Peephole“ wie Duchamp
selber schreibt, zwei für die Augen fast ein wenig zu nahe nebeneinander liegende Löcher in
einer alten, auf immer verschlossenen Tür, zu sehen ist. Bei Duchamp schaut man auf einen
nackten, weißen, weichen Frauenleib, der - wie tot oder vergewaltigt - in einem Gebüsch liegt,
während im Hintergrund ein Wasserfall („La Chute d‘eau“) belebt zu sein scheint. Der Akt hält in
seiner Linken ein Gaslicht empor („Le Gaz d‘eclairage“). Ferrée muss diese Arbeit über
Abbildungen kennen gelernt habe, vermutlich über Arturo Schwarz‘ Biografie des Künstlers von
1969 (7), denn - soweit wir wissen - ist er nie in den USA gewesen.
Bei Ferrée schaut der voyeuristische Betrachter - und das ist nun wirklich eine Neudeutung des
voyeuristischen Blickes im wahrsten Sinne des Wortes - durch die Augen des Künstlers, bzw.
seiner nachgebildeten Figur auf einen Spiegel, in dem sich der Künstler und der Betrachter in
eins spiegelt. Zugleich erkennt er einen Raum, dem nicht unverwandt, den der Arzt Dr. Philippe
Gerrault so beschreibt: „Jean F. saß auf einem Stuhl an der Wand gelehnt und starrte in einen
gegenüberliegenden Spiegel ... „(8). Es ist eben jener Spiegel, durch den wir den Künstler und
uns selbst erkennen. Ferrée hat sich in diesem, seinem einzigen Raumkunstwerk als eine
Existenz „hinter dem Spiegel“ festgehalten. Wir können dieses Selbstbildnis hinter dem Spiegel
damit sicherlich als sein wichtigstes künstlerisches Vermächtnis betrachten.
Lassen wir es fürs Erste bei diesen Andeutungen und kurzen Verweisen auf Ferrées Position im
Zusammenklang mit den Werken seiner Zeitgenossen, die Ferrée auf seine sehr eigene und
geheimnisvolle Weise in seinem Werk verarbeitete. Warten wir erst einmal auf die Werke, die im
nächsten Jahr in seiner französischen Heimat Lorquin endlich ans Tageslicht geholt werden
dürfen. Ich bin mir sicher, dass sich dann für den Kunsthistoriker noch ganz andere Hin- und
Verweise finden lassen werden, die dieses in jeder Hinsicht überraschende Werk zu neue
Deutungen führen wird. Wir jedenfalls können, dank des Wiederentdeckers Dirk Hennigs dieses
Werkes, das wir nicht einmal als verloren bezeichnen können, weil es bislang niemand
vermisste, sagen, dass wir dabei gewesen sind in Heiligenrode am 11. März des Jahres 2005,
bei der Eröffnung des Musée Ferrée temporairement.
Thomas Deecke Berlin / Bremen Dezember 2004
(1) Denis Durant de Bousingen, Il y a trente ans à Strasbourg: La Bataille du Roxy‘s, in Les
saisons d‘alsace, Nr. 24, Seite 103 ff
(2) siehe Götz Adriani, Winfried Konnertz, Karin Thomas, Joseph Beuys, Leben und Werk,
DuMont Verlag, Köln 1973 / 1881, S. 198 ff
(3) ROXYS, Tableaux Nr. 1 in Kat. Edward Kienholz, 11+ 11 Tableaux, Moderna Museet, 1970
(anschließend im Stedelijk Museum, Amsterdam, der Städtischen Kunsthalle Düsseldorf, dem
Musée d’Art Moderne, Paris und dem Institute of Contemporary Arts, London)
(4) Dank einer mündlichen Auskunft von Maike Aden, die zur Zeit an einer Magisterarbeit über
Bas Jan Ader an der Universität Bremen schreibt.
(5) Katalog Edward Kienholz, ROXYS and Other Works aus der Sammlung Reinhard Onnasch,
in der Gesellschaft für Aktuelle Kunst, Bremen 1982
(6) „Etant Donnés (Seite 557 ff) in Arturo Schwarz, The Complete Works of Marcel Duchamp,
Abrams, New York 1969
(7) a.a.O.
(8) Dr. Philippe Gerrault / Centre Hospitalier Spécialisé Lorquin (in diesem Katalog
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Jean Guillaume Ferrée - ein vergessener Künstler?
von Dr. Thomas Deecke
in: Katalog: Dirk Dietrich Hennig / Jean Guillaume Ferrée / Jamais vu, Berlin 2004